Die besondere Schwierigkeit im Wrestling, Gänsehautmomente zu erzeugen, liegt darin, dass alles nur Show ist und dieser Umstand im 21sten Jahrhundert jedem Fan jenseits des zwölften Lebensjahres bewusst ist. So überraschend ein Moment auch immer dargestellt wird, er bleibt ein Stück Text, den irgendein erfolgloser Hollywood-Schreiber aufs Papier gebracht hat. Es bleibt eine Randnotiz auf einem Showscript, dass oftmals nur ein Puzzleteil einer hanebüchenen Storyline ist. Fiktiv, erdacht - ohne die wirkliche Brisanz des eigentlichen Momentes. Die Kunst liegt also darin, den Moment so zu gestalten, dass der wissende Zuschauer vergisst was er weiß. Dass er sich einfach fallen lässt und das Gesehene als absolut wahr hin nimmt. Dass er glaubt, was er sieht - obwohl er ganz genau um den Umstand der Randnotiz auf dem Skript weiß.

Intensität - das ist eine Möglichkeit. Erhöht man diese Intensität durch monatelangen Aufbau, kann man sogar einen unvergesslichen Moment erzeugen, den jeder Zuschauer erahnt und sogar erwartet. Überraschung - das ist eine andere Möglichkeit. Und Nummer drei - und eine der wohl mit Abstand am besten funktionierenden Möglichkeiten zur Kreation von Momenten ist das Ungeplante. Das, was nicht auf dem Skript steht und einfach passiert. In das entweder nur ein kleiner Kreis eingeweiht ist, oder was wirklich tatsächlich absolut spontan oder gar unabsichtlich geschieht. Als Fan versetzen eine solche Momente nämlich in eine Situation, die für das Business unbezahlbar ist - er wird Teil der Sache. Er vergisst nicht einfach nur, dass er eingeweiht ist, sondern er merkt, dass hier gerade etwas passiert, das nicht Teil des Plans war und wird von einem Moment auf den anderen von einem unterhaltungswilligen Wrestlingfan zu einem sensationsgeilen Wrestlingfan.

Passiert das, haben alle Beteiligten gewonnen. Der Fan wird auf einzigartige Art und Weise unterhalten, das Unternehmen bekommt ungewollte aber effektive Würze in ihre Shows und die Protagonisten schreiben ein stückweit Geschichte.
Etwas, was niemals erwartet wurde. Etwas, was jeder erwartete, aber dennoch zu einem emotionalen Feuerwerk mutierte. Etwas, was niemand plante und etwas, was nur ein kleiner - ein sehr kleiner Kreis von Menschen plante. Das ist der Stoff, aus dem Momente sind. Nach meiner Reise durch meine mehr als fünfzehn Jahre anhaltende Wrestlingleidenschaft, ist das der Stoff, aus dem die vier größten Mark-Momente geschnitzt sind. Die Momente, bei denen aus einem klar denkenden Mann ein kleiner Junge wurde - der sich einfach von dem unterhalten ließ, was World Wrestling Entertainment ihm bot. Das sind meine vier Mark Momente:

Who's your daddy Montreal!?
Es gibt unglaublich wenig in den Geschichtsbüchern von World Wrestling Entertainment, das mehr diskutiert wurde als der Montreal Screwjob. Bret Hart war damals der Champion der Liga, einigte sich allerdings mit dem Chairman Vince McMahon darauf, die Liga zu verlassen. Im Guten. Selten passierte so etwas. McMahon öffnete ihm die Tür und löste das Ticket ins Turnerland und auch der Hitman war sehr um einen sauberen Abgang bei seinem langjährigen Arbeitgeber bemüht. Das Szenario seines letzten PPV-Auftritts war ein schwieriges. Hart, zwar Heel, aber vor Heimatpublikum stets als Volksheld gefeiert, trat an gegen Shawn Michaels, den Anführer der verhassten d-Generation X. Bret wollte sich vor heimischem Publikum nicht mit einer Niederlage verabschieden - und so einigte er sich vor dem Kampf mit McMahon, dass er den Abend als Champion verlassen dürfe und seinen Gürtel am Folgeabend bei Monday Night RAW an den Heartbreak Kid weitergeben sollte. All das geschilderte sind die Hintergründe des Montreal Screwjob, die heute jeder Wrestlingfan kennt. Damals - und darin lag die ausgesprochene Stärke des Momentes - kannte die noch kaum jemand. Für mich war der Kampf bei den Survivior Series 1997 ein einfaches Titelmatch, in dem mein Favorit Shawn Michaels eine Titelchance bekam. Als Bret im Sharpshooter war und Earl Hebner das Zeichen der Aufgabe gab, begannen die wohl spannendsten fünf Minuten meiner bisherigen Fankarriere. Bret stand auf und schaute verärgert. Hebner lief weg. Michaels feiert nicht, sondern schaute überrascht und neben sich stehend in der Gegend herum. Man drückt ihm den Gürtel in die Hand und Offizielle führten ihn aus der Halle. Bret spuckte Vince McMahon ins Gesicht. Was um alles in der Welt war hier los? Genau diese Frage stellte den unglaublichen Erfolg des Montreal Screwjobs dar. Was um alles in der Welt ist hier gerade passiert? So hinterhältig, falsch und kalt die Aktion auch war - es war einzigartige Unterhaltung.

Kind of a Shooting Star
Brock Lesnar schlug bei World Wrestling Entertainment ein wie eine Granate. Er wurde von seinem ersten Auftritt an konsequent gepusht und einzig das Einblenden eines Countdowns zu seinem Titelgewinn, hätte diesen noch offensichtlicher gemacht, als er ohnehin schon war. Einen ähnlichen Start hatte wenige Jahre zuvor Kurt Angle. Ihn ließ man zwar die etwas größere Kurve über European und Intercontinental Title gehen - im Main Event angekommen war er jedoch binnen weniger Wochen ein etablierter Star und einer der besten seines Fachs. Bei WrestleMania 19 sollte das Aufeinandertreffen der zwei Gladiatoren die Hauptattraktion und den Abschluss eines großartigen Abends darstellen. Und verdammt - die beiden wurden ihren Vorschuss-Lorbeeren gerecht. Brock ging als Herausforderer in den Kampf und jeder Fan rechnete mit einem Sieg des Next Big Things. Das Match war große Klasse und nach über zwanzig Minuten tollem Wrestling schien Brock Lesnar seinen Gegner bereit für den Pinfall zu haben. Angle lag inmitten des Ringes und Brock starrte zu ihm herab. Aber er pinnte ihn nicht. Stattdessen stieg der 130-kg-Hühne auf das oberste Seil des Ringpfostens und die Halle erstummte in Ehrfurcht. Brock schloss kurz die Augen und sprang los - es sollte der krönende Abschluss einer gigantischen Show werden. Und eine Shooting Star Press sollte es ebenfalls werden, eine Aktion die Billy Kidman bekannt gemacht hat und speziell er zeigte oftmals auf, wie schwer es ist, sie zu springen und wie sehr man sich dabei verletzen kann. Brock bewies in seiner Pre-WWE-Karriere bereits, dass er die Aktion drauf hat. Für WWE wäre dies die erste Ausführung einer Lesnar'schen Shooting Star Press gewesen. Doch Brock verkackte. Und statt mit seinem Oberkörper auf Kurt Angle zu landen, landete Brock Lesnar mit dem Gesicht vor dem olympischen Helden auf der Ringmatte und ich bin ganz ehrlich: Ich dachte, das hätte er nicht überlebt. Brock stand auf, wankte umher, zeigte einen F5 gegen Angle, pinnte ihn und war Champion. Das hätte verdammt in die Hose gehen können und demnach versuchte sich Brock nie wieder an einer Shooting Star Press bei WWE. Gut so, denn bei WrestleMania 19 blieb mir tatsächlich für einen Moment das Herz stehen.

"Please tell me, I just did not see THAT..."
Mein erklärter Hass gegenüber World Championship Wrestling bescherte mir ja so einige Mark Momente im WWE-TV. Ob es die Ankunft der Radicalz, der new World order oder die Zusammenschaltung von RAW und Nitro waren. Zum Glück bekam ich die Monday Night Wars schon etwas intensiver mit und wusste daher um die Animositäten zwischen den Leitern der beiden Ligen. Ich bekam mit, wie Bischoff verriet, dass Mick Foley Champion werden würde. Ich bekam mit, wie Bischoff Vince McMahon zu einem Kampf herausforderte. Es war selbst für mich als Fan sehr offensichtlich, dass zwischen den beiden Herren mehr als nur berufliche Konkurrenz brodelte. Schließlich siegte McMahon und übernahm World Championship Wrestling. Einige der Stars durften bleiben, um die Under- und Midcard von WWE zu bereichern, andere mussten gehen. On Air entließ McMahon Jeff Jarrett und andere Männer und beim Anblick dieser ganzen Bilder wusste ich, dass Vince McMahon hier tatsächlich mit den Schatten der Vergangenheit abrechnete - und somit auch innerlich den Sieg über Eric Bischoff, den alten Schleimscheißer, feierte. Im Sommer 2002 - kurz nach der Einführung des Rostersplits - kam es dann, dass McMahon ankündigte, zwei General Manager für seine Shows RAW und Smackdown zu benennen. RAW machte den Anfang, Vince kam heraus und begann, den GM für seine Hauptshow anzukündigen. Es ertönte "Back in Black" von AC/DC und durch den Eingang marschierte Eric Bischoff. Meine Augen rissen auf, ich schaute in die linke untere Ecke des Bildschirms und nahm das WWE-Logo war. Der Blick ging nach oben - es war Eric Bischoff, neben ihm McMahon, sie umarmen sich, halten ihre Arme in die Höhe. What the...!?!? Es war schier unglaublich. Und einmal mehr belegte Vince McMahon mit der Verpflichtung Eric Bischoffs an diesem Abend seinen Leitspruch aus den Neunzigern: "Anything can happen in the World Wrestling Federation." - an diesem Abend glaubte ich ihm das mehr als jemals zuvor.

The boyhood dream
Ich weiß gar nicht so recht, wo ich bei der Geschichte um Shawn Michaels' ersten Titelgewinn anfangen soll. Beim Enzuigiri von Owen Hart? Bei José Lothario? Beim Superkick, der Diesel als Letzten beim Royal Rumble 1996 über das oberste Ringseil beförderte? Oder bei den zahlreichen Einspielern, die einen Umstand im Gehirn der Fans festbrennen sollten: Der Gewinn des WWF Championships ist der große Traum des Shawn Michaels. Sein "Boyhood Dream". Und Scheiße ja, es hat sich in meinem Kopf eingebrannt. Die Rede war von einem 10-jährigen Jungen, der davon träumte eines Tages ein Wrestling-Champion zu sein. Ich war 14 und konnte mich noch gut daran erinnern, wovon ich mit zehn Jahren träumte. Mit Shawn Michaels' Geschichte erzählte man die Geschichte eines jeden jungen Wrestlingfans - man gab ihnen das Gefühl, dass dieser hirnrissige Traum tatsächlich in Erfüllung gehen kann und Shawn Michaels wurde Schirmherr dieses Gedanken. Ich, der jedes WWF-Magazin kaufte. Der jede Ausgabe des Disney-Heftes Limit kaufte, nur weil dort ein zweiseitiger, schlecht recherchierter Artikel über die World Wrestling Federation enthalten war. Ich, der seine Masters of the Universe Figuren mit Entrance Themes versah und sie auf einem selbstgebauten Ring gegeneinander antreten ließ. Ich identifizierte mich mit Shawn Michaels, weil er meinen Traum zu leben schien. Den Traum eines vermutlich jeden kleinen Wrestlingfans, auf deren Berufswunschliste neben Astronaut und Feuerwehrmann halt auch noch World Heavyweight Champion stand. Die Tatsache, dass es vollkommen klar war, das HBK Bret Hart an diesem Abend besiegen würde, rückte dabei vollkommen in den Hintergrund. Durch die große Zeitverzögerung zwischen Veranstaltung und Ausstrahlung habe ich sogar bereits vor der TV-Ausstrahlung in Deutschland aus der Bravo Sport erfahren müssen, dass Shawn siegte. Und trotzdem saß ich bei WrestleMania 12 gebannt vorm Fernseher. Nach 60 Minuten das Ende des Matches, 0 zu 0 und Bret verließ die Halle. Waren die Berichte in den Medien falsch? Oh nein, was passierte gerade? Puh, Gorilla Monsoon kündigt Sudden Death an. Sweet Chin Music, 1, 2, 3 und Shawn Michaels realisierte meinen Traum - den Traum vieler kleiner Jungs vor den TV-Bildschirmen. Aus heutiger Sicht, ist es schon ein bißchen peinlich, sowas zu schreiben - aber ebenso ist der Aufbau des Kampfes, des Shawn-Michaels-Face-Charakter und der Storyline um den Boyhood Dream aus heutiger Sicht immer noch eines der größten Booking-Wunder des modernen Wrestlings. Ja, und es ist definitiv der größte Mark-Out meiner Fankarriere gewesen. Mein Mark Moment Nummer 1.

Das ist vielleicht Deine Meinung, Mann!