Erinnerungen und Überraschungen - das sind wohl zwei der wichtigsten Stellschrauben, aus denen Momente geboren werden. Erinnerungen meint Nostalgie, das Wiederaufleben alter Zeiten, Vergangenes in neuem Glanze und aktueller denn je. Überraschungen meint Unverhofftes, Spontanes und nie Erwartetes. Das ist im wirklichen Leben so und natürlich auch im Wrestling. Schon so oft bediente man sich besonders dem Mittelchen "Erinnerungen", wenn es leer wurde auf den Brainstorming-Boards der Booking-Teams. Man kreierte ausgefeilte Comebacks, vereinte Teams der Vergangenheit oder ließ Rivalen vergangener Zeiten erneut aufeinandertreffen. Ja, und auch der Überraschungsmoment sorgt nur zu oft dafür, dass ein Wrestlingfan so etwas wie den berühmten "Mark Out" bekommt.

Dieser sogenannte "Mark-Out" spiegelt dabei das Wrestlingbusiness als Mikrokosmos des Lebens wider. Denn nur zu oft, erlebe ich Mark-Outs im Alltag, die nicht im Ansatz etwas mit überraschenden Three-Counts oder einem unverhofften Entrance zu haben. Eine großartige Band, die ich schon immer mal sehen wollte, wird für ein Festival bestätigt, für das ich Karten geordert habe. Die Firma schickt den Brief mit der Nachricht über die lang erhoffte und hart erarbeitete Gehaltserhöhung. Ein Freund, den ich ewig nicht gesehen habe, begegnet mir beim Weihnachtsball - oder der erste Akkord eines Songs auf dem Oasis-Konzert, der erahnen lässt, dass jetzt "Champagne Supernova" folgt.

Mitgerissen von den Emotionen und fallengelassen in diesen einzigartigen Momenten, versteht es mein privates Umfeld eher selten, wenn ich das soeben erlebte als "Mark Out" bezeichne - vielmehr höre ich zu oft die Antwort, von was für einem "Mark" ich da spreche. Oftmals hole ich dann kurz Luft und setze an, um diese Parallele meiner Passion zum Wrestling mit dem alltäglichen Leben zu erläutern - ausschließlich immer atme ich dann aber einfach nur aus und erspare mir und meinem Umfeld diese Argumentation, die vermutlich doch niemand verstehen würde, der er kein Wrestlingfan ist und somit niemals einen originalen Mark-Out erlebt hat. Wrestlingfans unter sich sind da schon viel verständnisvoller und die abstrakte Erläuterung des Begriffes "Mark-Out" wird von der Rechfertigung eines peinliches Momentes zu einem absoluten Selbstverständnis.

A radically appearence
Für einen wahren Fan der World Wrestling Federation gab es Ende der Neunziger nur wenige Regeln - die erste und mit Abstand wichtigste war allerdings: "Liebe alles, was Vince McMahon dir vorsetzt und hasse alles aus der WCW.". Ich war ein Fan der WWF und ich war ein extremer Verfechter dieser Regel. Die goldenen Zeiten eines deutschen Wrestlingfans bescherte uns das Digitale Fernsehkonzept "df1", als man uns mit "DSF Action" einer der weltweit ersten reinen Wrestlingsender präsentierte. So blieb es trotz der großen Regel nicht aus, dass man sich zumindest mal in den anderen Ligen umsah - einfach um auf dem neuesten Stand zu bleiben, was genau man gerade an der WCW hassen musste. Es ging somit nicht an mir vorbei, dass sich Ende 1999 eine Gruppe namhafter WCW-Wrestler zu einer Gruppierung namens "Revolution" zusammentat. Ich kannte Chris Benoit seit seinem WCW-Debut (bei dem ich natürlich nur rein zufällig reinzappte), wusste um Malenko's Status als großartiges Cruiserweight und auch Saturn war mir durch Raven's Flock bekannt. Als die drei gemeinsam mit dem mir ebenfalls sehr bekannten Eddie Guerrero plötzlich und unverhofft bei RAW auftauchten, zerschoss es mir sämtliche meiner Sinne. Gestern musste ich sie noch hassen und heute bekam ich endlich Rechtfertigung sie zu lieben. Nicht nur, dass ich mich freute wie ein Schneekönig, dass meine Liga um vier tolle Wrestler reicher war - ich empfand es zusätzlich als eindeutigen Sieg der WWF gegenüber dem Konkurrenten WCW und noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich mir die Tapes des Radicalz-Debuts vom 31.01.2000 ansehe. 

The X marks the spot
Ach ja, die Neunziger. Aus den Augen eines Wrestlingfans, der in den Neunzigern lebt, das - und da wiederhole ich mich gerne und bewusst - großartigste Jahrzehnt der Wrestlinggeschichte, wenngleich es auch da einzige Jahrzehnt ist, was ich vollständig kenne. Egal. Es gab wohl nichts in der langen Zeit, das ich mehr vergötterte als die d-Generation X. Selbst zu einer Zeit, in der es sich noch nicht schickte, Heels toll zu finden, war ich ein Anhänger des Stables und ihrer Aktionen. Die Verletzung meines damaligen Idols Shawn Michaels und das vermeintliche Karriere-Ende waren ein derber Rückschlag für mich und so sehr ich die Triple-H-dX auch mochte, war es nicht mehr dasselbe ohne Shawn. Dann, als Auslöser des In-Ring-Comebacks des Showstoppers riss man kurzzeitig eine mögliche dX-Reunion an, die mich bereits auf Mark und Bein ausrasten ließ - jäh zerstört durch den sofortigen Turn Hunters gegen HBK. Dann, wenige Jahre und etliche Matches der beiden besten Kumpel gegeneinander später stand WrestleMania 22 auf dem Programm. Shawn Michaels hatte einen Streetfight gegen Vince McMahon zu bestreiten. Er platzierte McMahon in einer Mülltonne und diese Konstruktion auf einem Tisch, kletterte auf eine Leiter, blickte ins Publikum, machte das Zeichen und sprang. Er machte das Zeichen. Genau wie Triple H wenig später im Main Event und ich sah, dass es gut war.

...beat both on the same night!
Die Könige der späten Attitude Ära waren Stone Cold Steve Austin und The Rock. Keine Karriere war vergleichbar mit dem Aufstieg dieser beiden Männer zu Megastars. Alles was sich um die beiden Herrn drehte, ist am Ende irgendwie immer zu einem Erfolg geworden und diese Reihe der vielen Erfolge gab ihrem Status Mal für Mal recht. So wunderte es auch nicht wirklich, dass WWE nach dem anfänglichen Hype um die Übernahme der WCW bei der Invasion-Storyline weniger auf die eigentlichen WCW-Stars setzte und vielmehr alles auf seinen eigenen Stars aufbaute - vorneweg Stone Cold Steve Austin und The Rock. Auch Chris Jericho und Kurt Angle spielte keine unerheblichen Rollen, doch die wirklich großen Momente gehörten den beiden 90er-Ikonen. Nach Abschluss der Invasion sollte langsam wieder Normalität bei World Wrestling Entertainment einkehren, wo es heute Normalität ist, störte man sich damals daran, dass es zwei World Champions in der Liga gab und so veranstaltete man bei der ersten Ausgabe von Vengeance ein Mini-Turnier mit Beteiligung beider Champs und beider No.1-Contender, um den "Undisputed Champion" zu küren. Die alles entscheidende Frage lautete "Rock oder Austin". Niemand staunte, als Austin seinen Herausforderer Kurt Angle besiegte, aber alle Welt staunte, als The Rock an diesem Abend Chris Jericho um den WCW Titel unterlag und The Great One somit nicht Teil des Finales wurde. Jericho besiegte Austin und schrieb Geschichte. Geschichte als erster Undisputed Champion, Geschichte, weil er Rock und Austin an einem Abend besiegte und Geschichte, weil er einen unverwechselbaren Moment schuf.

It's time for a change
Emotional geht es immer dann zu, wenn es nicht nur um ausgedachte Storylines und hanebüchene Angles geht, sondern um tatsächlich existierende Familienbeziehungen. Owen Hart und Bret Hart sind Brüder und waren 1993 beide Teil der World Wrestling Federation. Während Bret, der ältere Bruder, auf den Höhepunkt seiner Karriere zusteuerte, machte Owen sehr erfolgreich die ersten Gehversuche im Schatten seines großen Bruders. Bei der 93er Survivor Series versammelte Bret neben Owen noch die Brüder Keith und Bruce um sich herum, um seine Fehde mit Shawn Michaels in einem Elimination-Match zu beenden. Recht erfolgreich, denn mit nur einem Ausfall besiegten die Hart-Brüder den Heartbreak Kid und seine Ritter. Doch dieser eine Ausfall sollte Auslöser für einen viel größeren Moment werden, als es der Sieg über ein belangloses Team jemals hätte werden können. Owen gab Bret Schuld an seinem Ausscheiden und unterbrach die Feierzeremonie seiner Brüder, indem er den Hitman attackierte. Dies war nicht nur der überraschende Turn des Owen Hart, sondern der Beginn einer tollen Karriere. In diesem Moment ging Owen einen Schritt zu Seite und stand plötzlich nicht mehr im Schatten seines Bruders. Einige Jahre später wurde der Ausspruch "It's time for a change" zu Owen's Catchphrase - der größte Change in seiner Karriere vollzog sich jedoch am besagten Abend, als er Bret Hart an dessen Wrestling-Outfit vom Seil nach unten zerrte.

Das ist vielleicht Deine Meinung, Mann!